24 Stunden in Kelheim

Als ich meiner Frau Helga mitteile, dass ich mich für das 24-Stunden-Rennen in Kelheim anmelden wolle, erklärt sie mich für total verrückt.

Wie kommt man auf eine solche Idee? Eigentlich recht einfach: Nach vielen Radmarathons über 200 km, der legendären Tour-for-kids-Fernfahrt über 380 km von Bozen nach Ravensburg im Jahre 2012 und Mallorca 312 im vergangenen Jahr war die Frage naheliegend: Wie weit kommt man an einem Tag (und einer Nacht)?

In Kelheim, der Wittelsbacher Stadt am Ausgang des Donaudurchbruchs und am Zusammenfluss von Altmühl und Donau gab es 1996 das erste 24-Stunden-Rennen in Deutschland. Das „Original auf der Straße“, wie das Rennen offiziell genannt wird, genießt inzwischen weit über Bayern hinaus einen legendären Ruf. Zudem ist Kelheim Heimat der ältesten Weißbierbrauerei Bayerns. Deren Hauptprodukt ist die „Schneider Weiße“ und gleichzeitig ist die Brauerei Hauptsponsor des 24-h-Rennens. Radfahren und Weißbier, diese Kombination hat mir immer schon zugesagt. Ein weiterer Grund, sich anzumelden.

Zur Vorbereitung fahre ich alleine eine 300-km-Runde ins Allgäu und eine 4-tägige, 7oo km lange Runde durch die Alpen mit Rucksack, Schlafsack, Isomatte und vielen Pässen.

Anreise ist am Freitag, nicht zu früh, denn die besten Plätze in den Fahrerlagern sind schon vergeben. Teilweise sind die Teams schon seit Dienstag hier und haben die besten Plätze belegt. Am Alten Hafen ergattern wir dann doch ein schönes Plätzchen direkt am Hafenbecken, installieren unseren VW-Bus und das Anbauzelt, wir sind da. Wir holen die Startunterlagen ab und dann geht’s zur Nudelparty.

24-Stunden in Kelheim ist Kult. Bereits am Freitagnachmittag befindet sich die Stadt im Ausnahmezustand, die gesamte Innenstadt verwandelt sich in eine Partymeile mit Musik, Essen und Trinken – vergleichbar mit dem Rutenfestauftakt in der Ravensburger Altstadt. Wir besuchen das Festzelt, Dreh- und Angelpunkt des Rennens, wie sich noch zeigen wird.

Die Rennstrecke bin ich zuvor noch abgefahren. Vom Start geht es einen angenehm zu fahrenden, zweigeteilten und knapp 5 km langen Anstieg mit insgesamt ca. 180 Höhenmeter bergauf mit 2 längeren Passagen von 7-8 %. Gipfelpunkt ist der „Col de Stausacker“, danach folgt eine 4 km lange Abfahrt. Dann heißt es Kette rechts und es geht 6 km Highspeed zurück nach Kelheim. Am Ende der Runde fährt man durch ein schmales Stadttor in die Kelheimer Altstadt, auf Kopfsteinpflaster durchgeschüttelt, von den Massen bejubelt, durchs Bierzelt, um die Mariensäule, den Wendepunkt, herum und mit Vollgas in die andere Richtung durch das Bierzelt hinaus auf die nächste Runde.

Um 12 Uhr ist Fahrerbesprechung, um 13.30 Uhr begebe ich mich zum Startgelände auf der Altmühlbrücke.

 Am Start sind fast 1200 Teilnehmer, davon

  • 182 Damen-, Herren- und Mixedstaffeln mit jeweils 5 Teilnehmern pro Staffel,
  • 18 Einzelstarterinnen
  • 94 Einzelstarter in der Altersklasse bis 50 Jahren und
  • 82 Senioren in der AK über 50 Jahren, meiner Altersklasse.

Radiomoderator Bernhard „Fleischi“ Fleischmann von Bayern 3 sorgt für Stimmung unter den Tausenden Zuschauern, um 14 Uhr ertönt ein Böllerschuss.

Das Rennen beginnt: Die Staffelfahrer rasen im Sprinttempo los, das hat seinen Grund: Wer als erste Frau und als erster Mann nach dem 5-km-Anstieg auf dem „Col de Stausacker“  ankommt, gewinnt den begehrten Bergpreis. Wir Einzelstarter können es langsamer angehen lassen, unser Motto heißt: Kräfte einteilen.

Einzigartig ist die Stimmung in Kelheim, die Straßen sind dicht gesäumt von geschätzten 10 000 Zuschauern, die Fahrt durch das Bierzelt nach jeder Runde, angefeuert und bejubelt von den Fans, das Abklatschen vieler entgegengestreckter Hände – es ist einmalig. Auf dem letzten Kilometer vor dem „Col de Stausacker haben verschiedene Gruppen an mehreren Stellen riesige Musikanlagen aufgebaut, ohrenbetäubende Musik  im 150-Dezibelbereich erdröhnt und lautstark und feuchtfröhlich wird jeder!!! Fahrer angefeuert und dies 24 Stunden lang.

In der 2. Runde beginnt es zu tröpfeln und in der 3. Runde öffnet der Himmel seine Schleusen, es schüttet wie aus Eimern. Kurze Regenpausen mit der Hoffnung auf Wetterbesserung, dann kommt der nächste wolkenbruchartige Regen. So bleibt es bis zum Einbruch der Dämmerung und bis nach Mitternacht sind die Straßen pitschnass. Fährt man im Windschatten, gerät man in die Gischt des aufspritzenden Wasser des Vordermannes und kommt sich vor wie in der Autowaschanlage.

Nach 10 zurückgelegten Runden fahre ich zum Zelt, ziehe mir trockene Kleidung an, esse und trinke, was reingeht und fahre wieder weiter. Ab 21 Uhr ist Licht am Rad Pflicht, ebenso eine Warnweste. Neben dem Licht schalte ich auch mein Gehirn ein. Die ersten 10 Runden bin ich einfach zu schnell gewesen, habe mich zu oft verleiten lassen, mit den schnellen Staffelfahrern mitzufahren. Ich bremse mich bewusst ein, fahre jetzt Rundenzeiten um die 40 Minuten und kann dieses Tempo bis zum Rennende durchhalten.

Weitere 5 Runden, dann ist Mitternacht. Verpflegungspause. Ich sage zu Helga, sie solle ein bisschen schlafen. Nochmals 4 Runden, es ist 3 Uhr vorbei, ich habe jetzt 19 Runden und über 320 km. Ich begebe mich zum Zelt und lege meine geplante Schlafpause ein. Helga stellt den Wecker für 1 Stunde und ich warte im warmen Schlafsack auf das Sandmännchen. Vergebens, der Wecker klingelt und ich bin froh, dass ich wieder aufstehen kann. Die Pause war trotzdem erholsam.

Versehen mit frischen, trockenen Klamotten mache ich mich um 4.45 Uhr wieder auf den Weg, bald dämmert es, die lange Nacht ist vorbei. Bis zur nächsten Pause fahre ich wieder 4 Runden und so langsam kann ich anfangen zu kalkulieren. Mein Ziel war, die 500 km zu knacken, dazu müsste ich 31 Runden fahren. Nach weiteren 4 Runden ist meine Rundenzahl bei 27 angelangt. Es ist halb elf und ich realisiere, dass es reichen wird.

Das Ende ist inzwischen abzusehen, es ist warm geworden, das Spalier der Zuschauer wieder dicht, Anfeuerungsrufe, L-Ola-Wellen.  Jede Durchfahrt durch das wieder proppenvolle Bierzelt erzeugt Gänsehaut und ist ein einmaliges Erlebnis.

Nach einer letzten Verpflegungspause mache ich mich zu meinen letzten 4 Runden auf. Hochgefühl stellt sich ein. Bei den Staffelteams bahnt sich langsam die Entscheidung an. In aberwitzigem Tempo rasen die Pulks immer wieder an uns vorbei – das Siegerteam hatte am Ende 56 Runden und damit 918 km zurückgelegt mit einem Schnitt über 38 km/h.

Ich kann tatsächlich meine letzten Runden genießen. Noch drei, noch 2, noch eine Runde. Letzte Auffahrt zum „Col de Stausacker“. Kurz vor dem Gipfel steige ich vom Rad und klatsche meinen Lieblingsfan ab, der 24 Stunden lang ohne Unterbrechung mich und alle anderen anfeuerte. Dann die letzte Einfahrt in die Stadt, durch das Stadttor und die letzte Fahrt durch das Bierzelt. Ich stoße einen Jubelschrei aus und falle meiner Helga in die Arme, die mich in den letzten 24 Stunden aufopferungsvoll betreut hat.

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Es ist geschafft:

  • 20 Stunden reine Fahrzeit
  • 520 km stehen auf dem Tacho
  • 5580 Höhenmeter sind bezwungen
  • Platz 16 unter 82 Startern in der AK über 50 Jahre als drittältester Teilnehmer

Ein unvergessliches Abenteuer ist zu Ende. Als ich das Rennrad ins Auto einlade, stelle ich fest, dass ich einen Platten habe.

Harry

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