Rucksacktour – die Vierte

Mit dem Rennrad in 8 Tagen von Genf durch die Alpen nach Weingarten

950 km / 15 000 Hm

Da sitzen wir nun in der Pizzeria in Bourg St. Maurice. Froh, im Trockenen und Warmen zu sein. Statt nach Bier wird nach heißem Tee verlangt, wobei das Halten der Teegläser wegen der zitternden Hände ebenso Mühe bereitet wie das zielgenaue Bedienen  des Handy-Touchscreens. Man blickt in fahle Gesichter, ich meine auch, Zähneklappern zu hören. Allgemeiner Tenor: „So etwas habe ich noch nicht mitgemacht.“

Was ist passiert?

Unser Team (von links) Thommes, Tanja, Rob, Tommi, Bernd, Blacky, Horst, Dirk, Magic, Harry, Christian

Beginnen wir am Anfang:

Tag 1:                    Weingarten-Kreuzlingen mit dem Rad
                                Zugfahrt Kreuzlingen – Genf
                                Genf – Annemasse mit dem Rad, 65 km

Pünktlich um 7 Uhr treffen wir uns am Samstag zu unserer diesjährigen Rucksack – Radreise – Abenteuertour. Auf 11 Personen, eine Frau und 10 Männer,  ist unsere Gruppe inzwischen angewachsen, mehr geht nicht mehr. Bei unseren monatlichen Stammtischen den Winter über wählten wir aus 3 Vorschlägen unseres Planungsduos Bernd und Rob die diesjährige Route aus: Start in Genf und über viele Kilometer (fast 1000) und noch mehr Höhenmeter (15 000) durch die französischen Alpen, das Piemont, das Tessin und die Glarner Alpen  zurück nach Weingarten.

Rucksacktour? Eigentlich haben wir mit Blacky nur noch einen „echten“ Rucksacktouristen unter uns – die „Arschraketen“ haben sich durchgesetzt, rückenfrei ist angesagt. Wir bleiben aber trotzdem beim Begriff „Rucksacktour“, die Alternative hört sich nicht so gut an.

Conny schießt vor unserem Start noch ein Mannschaftsfoto. Schnell sind wir in Kreuzlingen, dort steigen wir mit unseren Rädern in den Zug nach Genf. Bahnfahren in der Schweiz ist pünktlich und bequem, vorbildlich. Anschließend noch 20 km mit dem Rad über die Grenze nach Frankreich zu unserem Hotel. Das ging ja ganz einfach.

Doch es liegt ein Schatten auf unserer Tour, der uns schon seit einigen Tagen beunruhigt: der Wetterbericht für die nächsten beiden Tage.

Tag 2:                    Annemasse – Col des Aravis – Col des Saisies – Beaufort/Areches
                                90 km , 2400 Hm

Pünktlich zum Start setzt der Regen ein. Erst leise nieselnd, dann stärker werdend, aber Gottseidank auch immer wieder von Regenpausen unterbrochen. Zwei schön zu  fahrende Pässe, der Aravis wurde auch bei der diesjährigen Tour de France überquert, die EMU-Aufschriften auf dem Asphalt zeugen davon. Über den Col des Saisies erreichen wir Beaufort und nach weiteren 300 Höhenmetern doch noch einigermaßen trocken unser Hotel in Areches.

Tag 3:                    Kein Tag wie jeder andere
                               Beaufort – Col du Pre – Cormet de Roselend – Kleiner St. Bernhard – Aosta
                               127 km, 3000Hm

Die ganze Nacht hat es geschifft, richtig prasselnder Regen. Als wir uns zum Frühstück treffen, dasselbe Bild. Das Wasser läuft in Bächen auf der Straße an unserem Hotel vorbei. Was tun? Alternativen? Keine. Alle weiteren Hotels sind auf den Tag genau gebucht. Nächste Hiobsbotschaft: Am Kleinen St. Bernhard liegt Schnee. Wie die Webcam zeigt: alles weiß. Der benachbarte Iseran ist gesperrt.

Uns wird klar: Ein harter Tag steht uns bevor. Die Bergsteigerweisheit „ Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung“ steht heute auf dem Prüfstand.

So fügen wir uns in unser Schicksal, das noch ein weiteres Schmankerl in Form eines Kaltstartes für uns bereit hält. Direkt hinter dem Hotel führen die ersten 8 km steil hinauf zum Col du Pre, immer zwischen 9 und 11 Prozent, Durchschnitt 9,5 %.

Der Regen ist Gottseidank nicht mehr so stark, aber was solls: außen nass vom Regen, innen nass vom Schwitzen, gleichmäßige Feuchtigkeitsverteilung. Dass man hier oben bei schönem Wetter den Mont Blanc zum Greifen nah vor Augen hat, interessiert uns heute eher weniger. Am Col bläst der Wind, schnell die Wintermütze aufgezogen, hinunter zum Roselend-Stausee, dann die restlichen 400 Höhenmeter zum Roselend-Pass bei einer Temperatur um die Null Grad.

Schnell noch was Warmes für die Abfahrt anziehen, dann nichts wie weg.

Unsere Gruppe hat sich in der Zeit des Aufstieges auseinandergezogen, aber es war von vorneherein ausgemacht, dass wir sofort ins Tal abfahren und nicht aufeinander warten. Die 20 km vom Pass hinunter nach Bourg St. Maurice bieten dem Körper genügend Zeit, den Wärmeverlust durch die automatisch einsetzende Muskelaktivität in Form von „Kältezittern“ auszugleichen. So kann man es im medilexi.de nachlesen.

Da sitzen wir also in besagter Pizzeria in Bourg St. Maurice (siehe Anfang), 11 mehr oder weniger schlotternde Helden der Landstraße, inzwischen aller nassen Klamotten entledigt. Die Stimmung steigt enorm, als der Pizzeria-Chef uns anbietet, alle nassen Klamotten in den Trockner zu schmeißen, während er uns verköstigt. Ein interessantes Geschäftsmodell. Allerdings mit einem Haken: Nach einer Stunde kam unsere Ausrüstung genauso nass aus dem Trockner wie vorher hinein.

Die Zeit drängt: Noch 90 km und der Kleine St. Bernhard-Pass liegen vor uns. Zum Glück lässt der Regen nach, manchmal hört er ganz auf, so dass der über 30 km lange Anstieg und seinen 1400 Hm vor allem im unteren Teil erträglich werden  Hinterher sind sich alle einig: So ein wunderschöner und gleichmäßiger Anstieg mit ständig um die 5% – hier müssen wir nochmal her. Nach dem bekannten Skiort La Rosiere wird es wieder ungemütlich. Regen und Wind nehmen zu, die Temperatur dagegen nimmt ab. Auf der Passhöhe auf 2200 Metern haben wir Null Grad.

Der Schnee ist inzwischen weg, aber ein kleiner Schneemann zeugt noch von der weißen Pracht.

 In der Abfahrt können wir nicht verhindern, dass es uns auf dem Rad vor Zittern immer wieder durchschüttelt und wir nur mit Mühe den Lenker festhalten können. Thommes hält sogar an, macht Liegestütze, um etwas Wärme in den Körper zu bekommen.

Kurz hinter der Passhöhe ist die Straße plötzlich trocken. Wir haben noch 50 km bis Aosta vor uns, immer bergab, 1700 Hm. Es wird zusehends wärmer und wer hätte es gedacht? Spät am Abend (19 Uhr) fahren wir kurz/kurz an unserem Hotel vor.

Ein epischer Tag geht zu Ende – mit Gesprächsstoff für manche Stammtischrunde.

Tag 4:                    Aosta – Oropa (Schwarze Madonna)
                                100 km, 2000Hm

Petrus ist wieder auf unserer Seite, die heutige Etappe hat fast Ruhetagcharakter. 60 km geht es gemächlich dem Flussverlauf der Dora Baltea entlang, die zum Po fließt. Wir biegen dann ab und schlagen die Richtung Schweiz ein.

Was unsere Tourenplaner für die nächsten beiden Tage ausgetüftelt haben, ist große Klasse. Wunderschöne, vielfach kleine und allerkleinste Sträßchen bringen uns zu unserem heutigen Tagesziel, dem Wallfahrtsort Oropa, in dem die Schwarze Madonna verehrt wird. Übernachten im Kloster – das hat Tanja gut ausgesucht. Am Abend besuchen  wir noch die Wallfahrtskirche. Buße für all unsere Sünden haben wir heute schon geleistet: Ein 2 km langer, bocksteiler Anstieg mit ständig 15-17 Prozent, in der Spitze sogar 21%, zwang fast alle zum Absteigen und Schieben (Daumen hoch für Magic und Thommes). Vermutlich gehörte das kärgliche Frühstück am anderen Morgen ebenfalls zum Buße-Programm.

Tag 5:                   Oropa- Domodossola – Sta. Maria Maggiore
                              143 km , 2500 Hm

Die landschaftlichen Sensationen nehmen zu. Vom Kloster führt ein einsames Sträßchen hoch zur Galleria Rosazza. Quäldich spricht zwar von einem verkehrstechnisch bedeutungslosen Pass, für uns ist es aber die Schlüsselstelle für den Übergang vom Piemont ins Tessin, zudem ist er völlig verkehrsfrei. Die Galleria ist ein Tunnel, der uns auf die andere Bergseite bringt und es folgen eine traumhaft schöne Abfahrt, ins nächsteTal, ein 600 Hm –Anstieg auf der Panoramica Zegna, die Überquerung des Bielmonte-Hochplateaus , gewürzt mit einem 19-Prozenter, bis wir endlich am Ortasee ins Flachland gelangen. Es bleiben noch flache 50 km bis Domodossola und ein ätzender Schlussanstieg (langer Tunnel, viel Verkehr) hinauf zu unserem Etappenziel Sta. Maria Maggiore, wo an diesem Wochenende das Internationale Treffen der Kaminfeger stattfindet. Vergeblich halten wir nach Joe Oettle Ausschau.

Lohn der Mühen des Tages: Ein sensationelles Hotel ( Hotel La Scheggia, unbedingt empfehlenswert, von Christian gebucht).

Tag 6:              Sta. Maria Maggiore – Centovalli – Biasca – Lukmanierpass – Disentis
                        133 km, 2300 Hm

Nach einem üppigen und reichhaltigen Frühstück beginnt die Etappe mit einer langen und wunderschönen Abfahrt durch das Centovalli. Inzwischen in der Schweiz angelangt, erreichen wir in Locarno den Lago Maggiore. Weiter geht es über Bellinzona nach Biasca. Hier zweigen wir von der Gotthardstrecke ab und machen uns an die 40 km lange Auffahrt zum Lukmanier, bei der wir 1700 Hm zurücklegen. Am Pass ist es kalt und windig, heute kein Ort zum Verweilen. Schnell den Anorak übergestreift und hinab geht’s die 30 km bis Disentis. Erst im Hotel treffen wir uns alle wieder  – zum Nachmittagsbier.

Beste Stimmung nach dem Lukmanier

Tag 7               Königsetappe
Disentis – Oberalppass – Andermatt – -Altdorf – Klausenpass – Obstalden(Walensee)
                        140 km, 3000 Hm

Der Sommer ist zurückgekehrt. Beim Anstieg zum Oberalppass am frühen Morgen scheint uns die Sonne angenehm auf den Rücken. Anschließend schönes Runtercruisen nach Andermatt. Was dann folgt, ist weniger schön. Wir geraten in das im Sommer übliche St. Gotthard-Verkehrschaos mit dichtem Aufwärtsverkehr auf der Landstraße und kilometerlangen Staus auf der Autobahn. Weil wir in die andere Richtung fahren, überstehen wir das Ganze schadlos.

Mittagessen im über 30 Grad heißen Altdorf.

Dann machen wir uns an den letzten großen Anstieg unserer diesjährigen Tourenwoche, den Klausenpass mit seinen 24 km und 1500 Hm. Jeder fährt für sich in seinem Tempo. Im Grunde gibt es nur 4 Serpentinen, ansonsten zieht die Straße endlose Kilometer in langen Geraden aufwärts. Nach zwei langen Stunden unablässigen Tretens und Schwitzens treffen wir nacheinander oben auf der Passhöhe ein.

Noch 60 km bis zu unserem Hotel hoch über dem Walensee.

Tag 8:              Obstalden – Weingarten
                        140 km, 500 Hm

Schlussetappe: lang, aber flach. Schöne Abfahrt zum Walensee hinunter und ab Sargans kennen wir den Heimweg bereits vom letzten Jahr. Viele Kilometer auf dem Rheindamm, wieder Einkehr bei Wolfi in Hard, diesmal ohne Tanzmusik, Lindau, Gießenbrücke sind die weiteren Stationen und bereits am frühen Nachmittag klicken wir  am Museumscafe in Weingarten aus den Pedalen.

Walensee

Die Rucksacktour 2023 ist zu Ende.

Was bleibt?

Eine unvergessliches Radabenteuer im Kreise einer Gruppe Gleichgesinnter, die alle ein Hobby betreiben, das auch ökologisch gut in unsere Zeit passt. Gemeinsames Leiden und Frieren und sich Freuen über das Erlebte verbindet. Alle haben zum Gelingen der Woche beigetragen, zwei Personen aber gebührt besonderer Dank: Bernd als Initiator, Ideengeber und Routenplaner und Rob ebenso als Routenplaner, Komoot-Tüftler, Garmin-Papst und souveräner Road-Captain. Wie ich die beiden kenne, liegen die ersten Entwürfe für 2024 bereits auf ihren Rechnern.

Wir freuen uns schon darauf, wenn es heißt: Rucksacktour – die Fünfte.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei Harry Fürst für diesen ausgezeichneten Bericht.

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